Eigentlich war Walter Owen Bentley (1888 bis 1971) gelernter Eisenbahningenieur. Vielleicht baute er deshalb ab 1919 riesige, starke, zuverlässige und vor allem sündhaft teure Automobile. Er bestückte sie mit Vier- und Sechs-Zylinder-Motoren mit bis zu acht Liter Hubraum. Weil sich kaum ein normaler Mensch diese „schnellsten Lastwagen der Welt”, wie sie Konkurrent und Leichtbau-Fan Ettore Bugatti feixend nannte, leisten konnte, waren die treuesten Käufer schwerreiche Lebemänner – eben die „Bentley Boys“ mit Namen wie Sammy Davis, Bernard Rubin, Glen Kidston, Frank Clement oder John Duff.
Ihre Karriere begannen die meisten von ihnen in Brooklands. Diese Rennstrecke im Süden von London war 1907 als erster Circuit überhaupt nur für den Motorsport erstellt worden. Die Rennen auf dem Beton-Oval gehörten bis zur Schließung der Strecke im Jahre 1939 zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen der englischen Oberschicht: Bei einem Rennwochenende in Brooklands musste man genauso dabei sein wie bei Pferderennen in Ascot, der Ruderregatta in Henley oder dem Tennisturnier Wimbledon. Während aber die meisten der in Brooklands erfolgreichen, fast immer britischen Erzeugnisse auf dem Kontinent keinen Blumentopf gewinnen konnten, war das bei den urigen Bentley ganz anders.
BENTLEY IN LE MANS
Der wohl wildeste unter den „Bentley Boys“ war Woolf Barnato. Nicht nur, dass er drei Le-Mans-Siege für Bentley einfuhr, er war auch eine stattliche Erscheinung. Und reich dazu: Seinem Vater gehörten die Kimberley-Diamanten-Minen in Südafrika. Barnatos Konditionstraining für die langen Rennen umfasste im Sommer Yacht-Ferien im Mittelmeer, im Winter ausgiebige Jagden in Schottland. Wenn Woolf gerade Lust hatte, züchtete er auch noch erfolgreiche Rennpferde. Wenn er nicht gerade den damals noch längeren Röcken hinterher war. Am liebsten fuhr Barnato aber Autorennen. Seinen legendärsten Bentley-Sieg, den erreichte er allerdings nicht auf einer Rennstrecke, sondern auf öffentlichen Straßen – und mit einer Wette. Zur Legendenbildung reichen manchmal wenige Zutaten. In diesem Falle sind es Woolf Bernato, ein Schnellzug sowie eine Idee, die vermutlich durch den reichlichen Genuss von Hochprozentigem befördert wurde. Es ging um die Ehre, einen berühmten Zug und den Sportsgeist eines britischen Gentlemans. Woolf Bernato behauptete, dass er mit seinem Bentley den Calais-Mediterranée Express, auch ‚Blue Train‘ genannt und der damals schnellste Zug, auf der Strecke nach Calais schlagen könne und in London einträfe, noch bevor der Zug das französische Ufer des Ärmelkanals erreichen würde. Von Cannes nach Calais: In einer Nacht, mit Vollgas und dem Dampf der Lokomotive im Nacken. Natürlich schafften er und sein sehr spezieller, vom Karrossier Gurney Nutting eingekleideter Bentley 6 1/2 Litre, dies spielend: Sie trafen sogar stolze vier Stunden vor dem Schnellzug in London ein, obwohl sich Barnato in Paris zuvor noch zu einem opulenten Mahl niedergelassen hatte. Es sind Geschichten wie diese, die den Namen Bentley unsterblich machen.
Tim Birkin war zwar nicht reicher, dafür allerdings noch verwegener als Barnato. Der ehemalige Kampfpilot prügelte die schweren Bentleys so gnadenlos und angstfrei über die Pisten wie keiner vor und nach ihm. Auch Dr. Dudley Benjafield, der Namensgeber des modernen Fanclubs, gehörte zum kleinen, erlesenen Kreis der etwa zehn historischen Bentley Boys. Der Bakteriologe Benjafield wuchtete in den Jahren 1923, 1926, 1927 und 1928 die schweren Wagen selbst um die Kurven in Le Mans, 1927 als Sieger. Denn seit 1923 gab es in Frankreich ein Marathon-Rennen, das perfekt auf die kräftigen Bentleys zugeschnitten war: die 24 Stunden von Le Mans. Bei der zweiten Austragung traten John Duff und Frank Clement auf einem privat gemeldeten, aber in Cricklewood vorbereiteten 3-Liter-Bentley an. Und gewannen auf Anhieb gegen 39 französische Konkurrenten. Dieser unerwartete Erfolg motivierte W.O. Bentley, also schickte er in den folgenden Jahren seine in Brooklands so erfolgreichen Bentley Boys immer wieder ins Gefecht. Wie bei vielen Rennwagen aus den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren war das Fahren damit alles andere als einfach. Zwar geht es aufgrund der üppigen Dimensionen platzmäßig geradezu opulent zu, doch der grüne Koloss manövriert sich wie ein Lastwagen. Die Steuerung mit dem mächtigen Steuerrad erinnert an ein Anlegemanöver der MS Franziska, die Bremsen sind mäßig und die hakelige Viergangschaltung stellt selbst erfahrene Piloten immer wieder vor Probleme. Statt der sonst üblichen acht oder zwölf Zylinder kam besagter Bentley mit gerade einmal vier Zylindern aus. Jede Brennkammer hatte daher ein gigantisches Volumen von über 1,1 Litern. Ohne den Einsatz des Kompressors geht nicht allzu viel, doch wenn die Roots-Turbine erst einmal einsetzt, gibt es kein Halten mehr. Und der Blower hat einen eigensinnigen Charakter. Mal rutschen die Gänge bei doppelter Kupplung, Gas-Stoß und kraftvollem Armeinsatz beinahe wie von selbst in die nächste Schaltstufe; mal lassen sich gerade die Gänge Zwei und Drei nur nach mehrmaligen Versuchen und mit entsprechender Gewalt einlegen. In langsamen Tempi fühlt sich der Brite ebenso wenig zu Hause wie in kurvigem Geläuf. Er will lange Geraden und seichte Kurven, gerne auch bergauf, wo er sich wie einst in Le Mans mit den brüllenden SSK-Modellen von Mercedes Elefantenrennen lieferte, von denen noch heute die alten Recken berichten. Die Höchstgeschwindigkeit damals wie heute: über 100 Meilen – 160 km/h.
Als dem Unternehmen Bentley 1925 der Bankrott drohte, kaufte Woolf Barnato kurzerhand die Firma, um sie am Leben zu erhalten. 1931 verlor er jedoch den Spaß am ständigen Geldausgeben und verkaufte wieder – ausgerechnet an den größten Konkurrenten Rolls-Royce. Die legendären Bentley Boys, die durchweg ihre jahrelangen, halsbrecherischen Fahrten überlebt hatten, zerstreuten sich daraufhin in alle Winde. Ein Fall für die Geschichtsbücher. Die Zeiten, in denen exzentrische Briten mit stark motorisierten Automobilen gegen dampfende Züge antraten, sind lange vorbei. Aus diesen Zutaten ist unsere Foto-Story entstanden. Ein wenig unnahbar, ein wenig herrschaftlich, opulent, modisch und sicher auch ein wenig verrückt.
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